Die Rückkehr des Politischen

Oliver Flügel/Reinhard Heil/Andreas Hetzel



Die in diesem Band vorgestellten Positionen fühlen sich einem emphatischen Denken des Politischen verpflichtet. Da sich unsere heutigen Gesellschaften unter den Bedingungen einer neoliberalen Globalisierung auf immer mehr Ebenen zu entpolitisieren drohen, wird das Insistieren auf dem Eigensinn des Politischen aus der Sicht der behandelten Autorinnen und Autoren selbst zu einer dringlichen politischen Aufgabe. Gegen die zunehmende Bürokratisierung, Verrechtlichung und Ökonomisierung sozialer Verhältnisse machen sie das Politische als radikal-demokratische Praxis der Selbstinstituierung von Gesellschaft geltend. Sie verstehen ihre politischen Theorien in erster Linie als politische Interventionen und lassen sich insofern weder dem Diskurs der Politikwissenschaften noch demjenigen der Politischen Philosophie im traditionellen Sinne zurechnen. In den Politik­wissenschaften dominieren heute empirisch-komparatistische Ansätze, die Begriffe wie Politik und Demokratie primär in einem historisch-beschreibenden Sinne verwenden.1 Bemühungen um einen normativ gehaltvollen Politik- und Demokratiebegriff finden sich dagegen eher in der Politischen Philosophie. Im deutschen Sprachraum wird die Aufgabe der Politischen Philosophie allerdings im wesentlichen darauf beschränkt, politisches Handeln in kategorialen Rechts- und Vernunftprinzipien2 zu begründen und damit auf eine bestimmte, engumgrenzte Sphäre der Rationalität und des Handelns zu beschränken. Politik wird hier tendenziell als Institution oder Teilsystem der Gesellschaft aufgefasst. Die radikaldemokratischen Autorinnen und Autoren, deren Rezeption bisher vor allem auf den französischen und angelsächsischen Sprachraum beschränkt war, artikulieren demgegenüber einen Universalitätsanspruch des Politischen. [...]

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Démocratie à venir: Jacques Derrida3

Oliver Flügel



Lange Zeit galt Derrida als enfant terrible des philosophischen Diskurses der Gegenwart.4 Die Wellen schlugen hoch: Nicht nur zeigten sich prominente Philosophen darum bemüht, die Dekonstruktion aus dem Korpus des philoso­phischen Denkens herauszulösen und in die ästhetischen Sphären der Literatur gleichsam zu verbannen5, sondern aktiv vergessen wurden dabei auch hermeneutische Grundprinzipien wie das einer gründlichen Textexegese; pikanterweise durchaus auch von Vertretern einer hermeneutischen Philosophie.6 Ins­besondere entzündete sich das Unbehagen an der Dekonstruktion an deren (vermeintlicher) normativer Abstinenz. Unterdessen sind die anfänglich schrillen Töne einer polemischen Debatte den ruhigeren Gewässern einer mittlerweile breit geführten, an den Denkbewegungen der Dekonstruktion interessierten (nicht allein fachphilosophischen) Diskussion gewichen.7 Wie Derridas Schriften der vergangenen Dekade illustrieren, blieben die teilweise harschen Vorwürfe eines Anti-Normativismus beim Autor nicht ohne Echo: Derrida hat seinen Interessenschwerpunkt deutlich auf die stets normativ imprägnierten Felder der praktischen Philosophie verlegt.8 Doch nicht allein hinsichtlich der Themenwahl ist Derrida darum bemüht, auf die normativen Dimensionen der Dekonstruktion aufmerksam zu machen. Seine Argumentation zielt auf eine tiefere Ebene: Von Anfang an, so vermerkt Derrida bereits in Gesetzeskraft, jenem Text demnach, der gemeinhin als erstes Indiz einer Hinwendung der Dekonstruktion zu den Fragen des Normativen bewertet wird, habe sich die Dekonstruktion Fragen der Gerechtigkeit zugewendet9; und in einer seiner jüngsten Publikationen führt er das Nämliche mit Blick auf das Politische und die Demokratie aus: „Das Denken des Politischen war immer ein Denken der différance, und das Denken der différance stets auch ein Denken des Politischen, des Umfangs und der Grenzen des Politischen, insbesondere über die rätselhafte Autoimmunität oder das double bind des Demokratischen“.10

Derridas eigenem Bekunden folgend werde ich daher den Versuch unternehmen, das Verhältnis von politischer Philosophie und Dekonstruktion, mithin die politische Philosophie der Dekonstruktion von den ersten, program­matischen Schriften der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des zwan­zigsten Jahrhunderts her zu entfalten (1) und mich hernach den im engeren Sinne politikphilosophischen und demokratietheoretischen Schriften jüngeren Datums zuwenden (2). Ziel ist es dabei, den Gehalt von Derridas Überlegungen zur politischen Philosophie ausgehend von der Programmatik einer Philosophie der Dekonstruktion als Dekonstruktion der Philosophie lesbar werden zu lassen. Damit freilich ist zugleich die These verbunden, dass der Dekon­struktion Dimensionen des Normativen konstitutiv innewohnen. [...]

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Die Unerreichbarkeit der Demokratie

Kontingenz, Identität und politische Handlungsfähigkeit nach Judith Butler

Heike Kämpf



Der Aspekt des Politischen ist zweifellos ein zentraler Fluchtpunkt der Arbeiten von Judith Butler. Dies wird nicht nur deutlich, wenn sie sich zur femini­stischen und queer Politik äußert, sondern er durchzieht ihre Überlegungen zur Subjektivierung (subjectivation), Macht, ethischen Gewalt und zur Psyche, um nur die zentralen Begriffe zu nennen. Um sich den vielfältigen Verschränkungen der Ausführungen zum Politischen in dem Werk Butlers anzunähern, bietet es sich an, der Frage nach den Ermöglichungsbedingungen politischer Handlungsfähigkeit nachzugehen. Von hier aus erschließt sich sowohl ihr Bezug zur feministischen Theorie, zum Poststrukturalismus Foucaultscher Prägung, zur Sprechakttheorie und zur Psychoanalyse. Die Bezüge auf diese sich teilweise widerstreitenden Positionen werden im Kontext der Frage nach politischer Handlungsfähigkeit relevant, können hier zueinander in Beziehung gesetzt werden und erfahren von dieser Frage ausgehend ihre Transformationen und Interpretationen, die bei Butler allerdings nie dogmatisch werden. Indem Butler die Frage nach politischer Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund der an Foucault angelehnten Verabschiedung eines souveränen Subjekts stellt, ergeben sich sowohl in Hinblick auf die Bestimmung des Politischen, wie in Hinblick auf die Frage nach der Transformation des politischen Feldes grundlegende Neuansätze für die Diskussion. [...]

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Demokratie zwischen Konflikt und Konsens

Zur politischen Philosophie Claude Leforts

Daniel Gaus



Mein Anliegen ist die Wiederherstellung der politischen Philosophie“11 – nicht gerade bescheiden formuliert Claude Lefort im Jahre 1983 das Projekt seines politischen Denkens. Ein wenig überraschend darüber hinaus, bescheinigt man doch allenthalben John Rawls, mit seiner „Theory of Justice“ bereits 1971 eine Wiederbelebung der politischen Philosophie geleistet zu haben. Ungeachtet der Tragweite eines solchen Unterfangens fällt die Aufmerksamkeit, die Leforts Schriften außerhalb des französischen Kontextes zuteil wird im Vergleich zur Rezeption der Arbeiten von Rawls eher gering aus. Jenseits der wie auch immer gearteten Gründe für dieses Rezeptionsgefälle eignen dem politischen Denken Leforts Züge, die im angelsächsischen politiktheoretischen Diskurs selten anzutreffen sind. Es sind die Bedingungen der Freiheit, die Lefort weniger durch rationalistische Deduktion als vielmehr mittels phänomenologisch orientierter Rekonstruktion der demokratischen Gesellschaftsform freizulegen sucht. Dabei erweitert er den demokratietheoretischen Skopus um ein Denken des Symbolischen. Die Bedingungen der Freiheit und der Demokratie liegen in einem Zusammenwirken von wirklicher und symbolischer Ebene, von Sichtbarem und Unsichtbarem. In einer stärker bildhaft und narrativ als systematisch verfahrenden Argumentation kehrt Lefort einem rationalistischen Voka­bular den Rücken. Nicht allein eine den Mainstream der politischen Theorie kontrastierende Originalität in Form und Inhalt, sondern vor allem der Versuch einer Offenlegung der Bedingungen der Möglichkeit und der Quellen der Gefährdung von Freiheit ist es, um den sich eine Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie Leforts lohnt. Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, seine Rekonstruktion der demokratischen Gesellschaftsform in fünf Schritten nachzuvollziehen. Zunächst zeigt sich die Unterscheidung zwischen politischer Philosophie und politischer Wissenschaft für das Verständnis des Lefortschen politischen Denkens als einer Rückkehr des Politischen wesentlich (1). Sodann entfaltet sich die spezifische Form der Demokratie anschaulich erst vor dem Profil alternativer Weisen der Formierung des Gesellschaftlichen. Aus diesem Grund soll über den Umweg der Monarchie (2) und in Abgrenzung vom Totalitarismus (4) die demokratische Gesellschaftsform in den Blick genommen werden (3). Schließlich stellt sich die Frage, welche Anregungen aus der politischen Philosophie Leforts für eine demokratietheoretische Reflexion zu gewinnen sind (5). [...]

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Pierre Rosanvallon und das Problem der Politischen Repräsentation

Wim Weymans



Auch wenn er außerhalb Frankreichs nur wenig bekannt ist, gehört Pierre Rosanvallon, geboren 1948, zu den führenden Vertretern des politischen Denkens seines Landes. Die Themen seiner mehr als fünfzehn Bücher scheinen jedoch auf den ersten Blick nicht der politischen Philosophie zuzugehören.12 Abgesehen von einem Buch über Guizot13 widmet sich Rosanvallon vornehmlich soziologischen oder politischen Themen, wie dem Syndikalismus,14 dem Wohlfahrtsstaat oder historischen Topoi wie der Geschichte des „sich selbst regulierenden Marktes“15 oder der Demokratie in Frankreich.16 Man bekommt den Eindruck, dass Rosanvallon mehr ein politischer Wissenschaftler oder Historiker als ein Vertreter der politischen Philosophie ist. Doch dieser Eindruck täuscht: Durch seine soziologischen und historischen Arbeiten zieht sich ein starkes philosophisches Interesse, die elementaren Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft zu verstehen.

Eines der Hauptprobleme zeitgenössischer Gesellschaften ist die so genannte „Krise der politischen Repräsentation“, welche die westlichen Demokratien seit den achtziger Jahren heimsucht. Die Symptome dieser Krise sind wohl bekannt: Die Bevölkerung sieht sich von ihren Repräsentanten nicht mehr vertreten, das Wählervertrauen in die „traditionellen Parteien“ sinkt genau wie die Wahlbeteiligung. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Wechselwähler zu, und es kommt zu einer Verstärkung der extremen Rechten und der populistischen Parteien. Die Vorschläge, wie man der Krise beikommen könnte, sind ebenfalls gut bekannt: Die Parteien sollen das Vertrauen der Wähler mittels einer „neuen politischen Kultur“ oder durch neue Formen der politischen Repräsentation, zum Beispiel Volksentscheide, wiedererlangen. Bisher haben aber alle diese „Lösungen“ versagt. [...]

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Die Politik der Menschenrechte: Etienne Balibar

Tilman Reitz



Seit gut zwanzig Jahren macht Balibar zu Themen, die für andere Autoren zum gesicherten Bestand der politischen Philosophie zählen, beunruhigende Beob­achtungen: Die liberale Demokratie funktioniert allein dadurch, dass faktisch viele nicht mitbestimmen können; ihre nationalstaatliche Form provoziert die machtloseren Staatsbürger, sich von den auch formal Ausgeschlossenen rassi­stisch abzugrenzen; die Menschenrechte schließlich, die diese Form zu sprengen beanspruchen, sind nur als Bürgerrechte durchsetzbar. Balibars Analysen reagieren freilich auf eine Lage, in der sich die fragliche Konstellation zu verändern beginnt – auf die Krise des Nationalstaats, mit der die Grundrechte wieder zum Gegenstand offener Auseinandersetzungen werden. In dieser Situation, so seine Annahme, ist weniger eine Begründung oder Verteidigung als eine Politik der Menschenrechte vonnöten.

Balibar hat seinen Blick für spannungsreiche Kopplungs- und Ausschlussverhältnisse an den Analysen Louis Althussers geschult, der ihn bereits als Stu­denten an seinem Schlüsselwerk Lire le Capital beteiligte17 und dem er posthum die Aufsatzsammlung Écrits pour Althusser18 widmete. Die methodische Neuerung, mit der Althusser auf eine ganze Generation kritischer Theoretiker einwirkte (zu seinen Schülern zählen auch Jacques Rancière und Michel Pêcheux, mittelbar hat er z.B. Michel Foucault und Judith Butler geprägt), ist als Verbindung von Marxismus und Strukturalismus bekannt geworden. Althusser konzentriert sich nicht mehr allein auf ökonomisch bedingte Konflikte, sondern reflektiert auch auf die abstrakten Ordnungsmuster, die in ihrer Analyse und in ihrer Austragung am Werk sind. Die resultierende Methode erlaubt es, an tra­ditionellen Begriffen wie dem des Klassenkampfes, der Ideologie, selbst an de­nen von Basis und Überbau festzuhalten, ohne alles Soziale auf die Entwick­lung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zurückzuführen. Althusser erreicht dieses Ziel, indem er in Marx’ Beschreibungsmustern und in den Gegenständen seiner Analyse durchgängig die gesamte Artikulation beleuchtet, nicht allein die jeweils als bestimmend hervorgehobenen Momente. So liest er den Klassenkampf nicht reduktionistisch als Klassenkampf, als Auseinandersetzung bereits bestehender Einheiten, sondern als Klassenkampf, als einen Prozess, der seinerseits die beteiligten Parteien formiert;19 Ideologie erscheint in seinem Werk seit einem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1970 nicht mehr als falsches (oder auch klassenadäquates) Bewusstsein von den realen Verhältnissen, sondern als Produkt ‚ideologischer Staatsapparate’, von gleichfalls realen Institutionen und Ritualen, die das Leben in diesen Verhältnissen einüben;20 derart kann schließlich die Aufteilung des Sozialen in Basis und Überbau nicht mehr bedeuten, dass der letztere eine bloß abhängige Variable ist – die Aufteilung wird vielmehr zur ‚Topik’, zum Orientierungsschema, das ihre strukturelle Getrenntheit und ihre funktionale Wechselwirkung abzubilden hilft.21 Hiermit ist zugleich ein zweites Prinzip von Althussers Methodik angesprochen, sein Blick für das, was er mit Freud ‚Überdeterminierung’ nennt. Er deutet die Marxschen Kategorien nicht nur durch neue Akzentuierungen um, sondern hebt zugleich hervor, dass sich die von ihnen erfassten (oder auch vernachlässigten) Strukturen beständig überlagern – etwa derart, dass die politischen Kämpfe nicht allein an ökonomischen, sondern zugleich auch an nationalen, religiösen, kulturellen und geschlechtlichen Fronten stattfinden. [...]

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Aufteilung(en) unter Gleichen

Zur Theorie der demokratischen Konstitution der Welt bei Jacques Rancière22

Andreas Niederberger


1 Wider die Politik der Intellektuellen


Jacques Rancières theoretische Karriere beginnt 1965 mit der Publikation des Bandes Lire le Capital, in dem Louis Althusser die wichtigsten Beiträge zu seinen Seminaren zu Marx an der École Normale Supérieure der Rue d’Ulm versammelt.23 In seinem Artikel folgt Rancière Althussers Vorgabe, das Denken von Marx in „streng wissenschaftlicher“ Weise und insbesondere im Anschluss an Das Kapital fortzuführen, was vor allem impliziert, dass der Theoretiker Einsicht in Gesetze der Reproduktion der sozialen Welt hat, die den sozialen und politischen Akteuren selbst entzogen sind. Dagegen wird der junge Marx mit seinem Kritikbegriff zurückgewiesen, da er Beschreibungskategorien philosophische Dignität verleiht, die in der sozialen Welt selbst gebraucht werden und dort das Verstehen sowie das Selbstverständnis der Handelnden prägen. In dieser Weise verfehlt die Kritik ihren Objektbereich und dessen Konstitutionsbedingungen, denn sie verdoppelt lediglich kontingente Erfahrungsbegriffe, die sich der Anthropologie ihrer Zeit verdanken und die allgemeine Grundlage der politischen Ökonomie bilden.24 Nach dem Mai 68 distanziert sich Rancière jedoch zunehmend von Althusser und kritisiert dessen Enthistorisierung des Ideologiebegriffs sowie die distanzierte Attitüde des „akademischen Marxisten“ gegenüber den faktischen politischen Auseinandersetzungen. Diese beiden Elemente verbindet in den Augen des Renegaten eine Wahrnehmung der Arbeiterklasse, die dieser einerseits unterstellt, ideologischen Apparaten, die der Aufrechterhaltung und Legitimierung existierender Produktionsverhältnisse dienen, ausgesetzt zu sein, ohne deren Funktionieren verstehen und ihnen substantiell etwas entgegensetzen bzw. sie verändern zu kön­nen, und die ihr andererseits auch hinsichtlich des marxistischen Wissen­schaft­lers eine eigenständige Position abspricht und jenen vielmehr zum notwendi­gen Advokaten des Proletariats macht.25 In explizitem Gegensatz zu dieser Ab­wertung der eigenständigen Leistungen der Arbeiterklasse und auch in gezielter Differenz zum Gestus der höheren Einsicht des Wissenschaftlers, die den Arbeitern nur bedingt vermittelt werden kann, wendet sich Rancière zunächst den Arbeitern des 19. Jahrhunderts, ihrem Selbstverständnis und ihren kulturellen Leistungen zu. Die Publikationen, die daraus erwachsen, folgen der methodologischen Maxime, die Arbeiter selbst sprechen bzw. ihre Versuche dazu zum Ausdruck kommen zu lassen, ohne dass diese Darstellung noch einmal interpretatorisch aufgehoben wird. Die Emanzipation der Arbeiter soll auch im Verständnis des Theoretikers dort beginnen, wo sie tatsächlich ihren Anfang nimmt, nämlich in den Anstrengungen der Arbeiter, ihre Emanzipation zu denken und zu erwirken, selbst wenn diese Emanzipationsbestrebungen nicht immer die Klarheit und Kohärenz haben, die eine engagierte Theorie gerne vorschreiben möchte.26 Andererseits befasst sich Rancière aber auch direkt mit der Vermittlungsgeste des engagierten Wissenschaftlers und setzt ihr die Lehre des „unwissenden Schulmeisters“ entgegen, die der Französischlektor Joseph Jacotot, der bis zur Studie Rancières akademisch so gut wie nicht beachtet wurde, im 19. Jahrhundert in Louvain entwickelt hat.27 Im Kontext des Streits um das französische Schulsystem in den siebziger und achtziger Jahren weist Rancière beide gängigen Positionen, d.h. sowohl die soziologische Position Pierre Bourdieus, die eine Angleichung der Lehrmethoden und -inhalte an die Kompetenzen und Interessen der am wenigsten Privilegierten fordert, als auch die „republikanische“ Position Jean-Claude Milners, die die Aufgabe der Schule und der Lehrer in der gleichen Vermittlung eines universellen Wissens sieht, zurück. Gegen diese Auffassungen, die der Schule die Gleichheit als Zielbestimmung vorgeben wollen, wird die „intellektuelle Gleichheit unter Individuen“28 als Ausgangspunkt bestimmt, womit der Lehrende sich in einer Lage wiederfindet, in der er angesichts der Inhalte, die zu lehren und zu lernen sind, genauso unwissend ist wie der Lernende.

Mit dieser Zurückweisung der geläufigen reformpädagogischen Positionen entwirft Rancière zugleich ein Schema zur Klassifizierung von Positionen der politischen Philosophie, da diese seiner Auffassung nach in gewissem Maße parallel zu den Verhaltensweisen der Wissenden gegenüber ihren Schülern sind. [...]

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Wäre der Widerstreit politikfähig?

Lyotards Kritik des Rechtsstreits und die Frage des
Politischen in
Le différend 29

Petra Gehring



1 Ein Krieg der Sätze


Le Différend, das Buch über den „Widerstreit“ von 1983, sei in einem „philosophischen“ Modus geschrieben, stellt der Autor, Jean François Lyotard, zur Einleitung eigens fest.30 Das Buch expliziere nicht vorab seine eigenen Regeln, insofern sei es nicht „theoretisch“. Es wolle nicht selbst das Faktum, dass es unüberbrückbare Differenzen gibt, den „Widerstreit“ also, schlichten. Für die Philosophie und womöglich auch eine Politik gehe es vielmehr darum, das Widerstreitende zu bezeugen, témoigner, „indem man ihm entsprechende Idiome verschafft“.31 Schon mit dieser Aussage ist Le Différend nicht nur ein politisches Buch, sondern auch ein Buch über das Politische – über eine bestimmte Gestalt des Politischen oder auch der Politik in einer Epoche, in der nicht nur das Denken, sondern auch „die Ethik, die Politik, die Geschichte, das Sein“ auf dem Spiel stehen „an der Nahtstelle zwischen Sätzen“. Den Beginn dieser Epoche hatte Lyotard 1979 im Zeichen der Postmoderne selbst mit ausgerufen. La condition postmoderne, sein Lagebericht über die aktuelle Verfassung des Wissens in den hochentwickelten Gesellschaften32, machte das Wort „postmodern“ über die Ästhetik und Architektur hinaus bekannt und hat ihm eine umfassende theoretische Bedeutung gegeben.

Wenn man so will, dann nehmen auch die radikalen Grundgedanken, mit denen Le Différend arbeitet, von einer bestimmten historischen Verfasstheit des Wissens ihren Ausgang. Die Zeiten universaler Ordnungen oder auch nur universalistischer Ansprüche sind vorbei. Es herrschen Pluralität und Heterogenität von einerseits „Satzregelsystemen“, regimes des phrases, andererseits „Diskurs­arten“, genres du discours, denen jegliches Kommunizieren untersteht. Grundein­heit der Kommunikation ist vor diesem Hintergrund der „Satz“, phrase – nicht im engen Sinne einer korrekten sprachlichen Bildung, sondern im weit gefassten Sinne von Performanz überhaupt. Nonverbale Gesten stellen also genauso „Sätze“ dar wie Schweigen oder auch einfach Ereignisse, an die sich wiederum weitere Sätze anschließen lassen: das Ziehen der Wolken. Lyotards zentrale Annahme zielt weniger auf das Was ist der Sätze als auf deren Wie. Sie lautet: auf einen Satz muss ein weiterer, anderer Satz folgen. Es kann nicht ‚kein Satz’ sein. Wirklichkeit gehorchte demnach einem strengen Prozessmodell. Sie hat die Form einer „Verkettung“, enchaînement, von Sätzen, woraus die Notwendigkeit folgt, dass man fortsetzen muss, dass man an einen gegebenen Satz stets etwas anschließt, das wiederum als Satz funktionieren wird. Man kann nicht nicht verketten, „Il faut enchaîner“.33 [...]

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Die Agonalität des Demokratischen: Chantal Mouffe

Dirk Jörke



1 Einleitung


Im Zentrum der politischen Theorie Chantal Mouffes steht das Modell einer radikalen und agonistischen Demokratie, die sie dem politischen Liberalismus auf der einen und kommunitaristischen Entwürfen auf der anderen Seite entgegenstellt. Ihr Kerngedanke ist dabei, dass sich politische Konflikte weder ‚neutralisieren’ lassen, wie dies liberale Autoren anstreben, noch in pluralistischen Gesellschaften ein Rückgriff auf substantielle Wertvorstellungen, den der Kommunitarismus befürwortet, möglich und wünschbar ist. Stattdessen lebt Demokratie von der Anerkennung der Unhintergehbarkeit von Konflikten, wobei das genuin ‚Demokratische’ laut Mouffe in der Bereitschaft besteht, sich wechselseitig zwar als Gegner, die um die Hegemonie im demokratischen Raum streiten, aber nicht als Feinde zu betrachten.

Im Folgenden sollen die wesentlichen Züge und Probleme dieses gleichermaßen theoretisch anspruchsvollen wie praktisch folgenreichen Demokratieverständnisses skizziert werden. In einem ersten Schritt werden hierzu die begrifflich-konzeptionellen Grundlagen von Mouffes politischer Theorie, die sie gemeinsam mit Ernesto Laclau in ‚Hegemonie und radikaler Demokratie’ skizziert hat, erläutert. Dabei beschränke ich mich auf die Darstellung der Grundzüge ihrer poststrukturalistisch fundierten Hegemonietheorie. Einer Diskussion und Bewertung dieses gehaltvollen Theorieentwurfes enthalte ich mich jedoch zunächst (2). Sodann soll Mouffes Kritik der deliberativen Demokratie, worunter sie sowohl den politischen Liberalismus von John Rawls als auch Habermas’ Diskursethik fasst, wiedergegeben werden. Es ist dabei vor allem deren Streben nach ‚Universalität’ und Neutralität, das sie kritisiert (3). In einem dritten Schritt soll etwas ausführlicher Mouffes Gegenmodell, das sie als eine radikale und agonistische Theorie der Demokratie versteht, thematisiert werden (4). Zunächst sollen aber diejenigen demokratietheoretisch gehaltvollen Weichenstellungen herausgearbeitet werden, die sich unmittelbar aus dem poststrukturalistisch inspirierten Theoriegebäude gewinnen lassen. Namentlich handelt es sich dabei um das Theorem der Unabschließbarkeit des Sozialen (a). Vor diesem Hintergrund werde ich dann die Grundzüge von Mouffes Theorie einer radikalen und agonistischen Demokratie darstellen und problematisieren, wobei ich mich hier zunächst auf eine interne Kritik beschränke (b). Grundlegendere Einwände, die sich aus der Verbindung von Poststrukturalismus und Demokratietheorie ergeben, trage ich im folgenden Abschnitt vor (5). Ein knapper Überblick über die bisherige Rezeption von Mouffes Schriften beschließt diesen Beitrag (6). [...]

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Demokratie ohne Grund. Ernesto Laclaus Transformation des Politischen

Andreas Hetzel



Demokratie muss nicht – und kann auch nicht – radikal gegründet werden. Wir können uns einer demokratischen Gesellschaft nur durch eine Pluralität von Demokratisierungsakten nähern.“ (Ernesto Laclau)



Ernesto Laclau kann als wichtigster Anreger und Vertreter des radikaldemokratischen Diskurses, wenn nicht sogar als einer der bedeutendsten politischen Theoretiker unserer Zeit überhaupt gelten. 1935 in Buenos Aires geboren, betätigt er sich in den 60er Jahren in der argentinischen Studentenbewegung und wird als Studierendenvertreter in den Senat der Universität seiner Geburtsstadt gewählt. Vor dem Hintergrund der politischen Kämpfe in Argentinien und fasziniert vom Erfolg der Kubanischen Revolution interessiert er sich zunehmend für den Marxismus und wird Führungsmitglied der Sozialistischen Partei der Nationalen Linken. 1969 verlässt er Argentinien und geht nach Europa; er promoviert an der University of Essex, wo er noch heute, nach mehreren Gastprofessuren an europäischen, nord- und südamerikanischen Universitäten, einen Lehrstuhl für Politische Theorie innehat.

Laclau fragt in seinem Werk nach den Möglichkeiten und Grenzen einer postmarxistischen linken Politik. Das Etikett „postmarxistisch“ markiert dabei sowohl eine Kontinuität als auch eine Diskontinuität. Laclau hält am emanzipatorischen Anliegen des Marxismus fest, bricht aber mit dessen latenten Objektivismen. Er möchte sich von den deterministischen Altlasten der Marx­schen Orthodoxie befreien und schließt sich eher dem Revolutionstheoretiker Marx an als dem Strukturtheoretiker. Die Ausgangspunkte seiner Transformation des Marxismus bilden einerseits Antonio Gramscis Hegemonie-Theorie, die die Gesellschaft als einen auf Dauer gestellten Konflikt interpretiert, andererseits die Differenztheorien Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Jacques Derridas und Jacques Lacans, die mit ihrem Denken einer „selbstbezüglichen Negativität“ (Hegel), einer „ursprünglichen Differenz“ (Derrida) und eines „Realen“ – verstanden als interne Grenze aller Versuche, das Soziale in eine symbolische Ordnung zu integrieren – (Lacan) die logischen Formulare liefern, anhand derer sich hegemoniale Kämpfe begrifflich rekonstruieren lassen. Laclau bezieht sich dabei insbesondere auf die Dekonstruktion Derridas, deren politische Implikationen er aufgreift und, über das in dieser Richtung bereits von Derrida Geleistete hinausgehend,34 zu einer poststruktura­li­sti­schen Theorie des Sozialen und des Politischen erweitert. Derridas Dekon­struk­tion mache deutlich, „dass viele Strukturen, viele Kategorien, die sich selbst als geschlossene Kategorien darstellen, in Wahrheit von inneren Aporien durchdrungen sind, so dass die gegenwärtige Konfiguration, die sie zeigen, in Wahrheit viele verschiedene Alternativen verbirgt, die unterdrückt werden.“35 Laclau verwendet die Dekonstruktion als Instrument einer Kritik an der Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit der Dekonstruktion ließe sich zeigen, dass (um Adorno zu paraphrasieren) das, was ist, nicht alles ist, dass die übermächtig erscheinende Wirklichkeit der Verhältnisse bereits in sich selbst Möglichkeiten ihrer Überschreitung enthalte. [...]

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Politik als Wahrheitsereignis. Alain Badiou36

Andreas Hetzel



So selten sie sein mag, die Politik, und also die Demokratie, hat existiert, sie existiert und wird existieren. Und mit ihr, unter ihrer anspruchsvollen Bedingung, die Metapolitik: das, was eine Philosophie, innerhalb ihrer eigenen Sphäre, des Namens »Politik« für würdig erachtet. Oder auch: das, was es voraussetzt, wenn es denkt, was ein Denken ist.”

Alain Badiou


Wollte man den Diskurs der postmarxistischen politischen Theorie auf die Sitzordnung eines imaginären Parlaments abbilden, dann gebührt Alain Badiou der Platz links außen. Doch was könnte es heute noch bedeuten, eine extrem linke Position zu beziehen? Für Badiou selbst ist eine solche Position „egalitär und gegenstaatlich”, sie betreibt eine „De­kon­struktion der Schichten“, weist die „differentiellen und hierarchischen Repräs­en­ta­tio­nen” eines in den westlichen Staaten dominierenden Kapitalparlamentarismus zurück und weiß sich letztlich dem „Aufstieg eines Kommunismus der Singularitäten” verpflichtet.37 Wie Claude Lefort, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Jacques Rancière und Etienne Balibar knüpft auch Alain Badiou an das emanzipatorische Anliegen des Marxismus an, um zugleich mit dessen strukturdeterministischer Ausrichtung zu brechen. Bei Badiou, der sich vorder­gründig eher als Marxist denn als Postmarxist versteht, vollzieht sich dieser Bruch gleich­wohl noch radikaler. Er expliziert die Frage nach dem Politischen weniger als Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Demokratie, sondern als Frage nach einem revolutionären Wahrheitsereignis. Er behauptet, „dass die Initiierung einer Politik, ihrer Aussagen, ihrer Präskriptionen, Urteile und Praktiken immer die absolute Singularität eines Ereignisses ist”38. Badiou bezieht nach eigenem Bekunden eine dezidiert militante Position.39 Politik wäre für ihn weder eine Institution oder ein gesellschaftliches Teilsystem, noch eine bestimmte Urteilsform, sondern eine ereignishafte Intervention, die den gewohnten Lauf der Dinge unterbricht und die Karten für alle am gesellschaftlichen Prozess Beteiligten völlig neu mischt. [...]

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Die Kunst des Unmöglichen

Slavoj Žižeks Begriff des Politischen40

Reinhard Heil



Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ (Friedrich Nietzsche)



1 Einleitung


Ein Großteil der Arbeiten Slavoj Žižeks lässt sich als Versuch ansehen, den oben stehenden Aphorismus Nietzsches auszulegen und ihn vor allem ernst zu nehmen. Ich werde deswegen meine Darstellung der politischen Theorie Žižeks mit einer Skizze der ontologischen und epistemologischen Grundlagen seines Denkens beginnen. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts stehen die Überlegungen Žižeks zur grundsätzlichen Mangelhaftigkeit des Seienden, also der konstitutiven Unabgeschlossenheit der ontologischen Ordnung, und seine produktive Aneignung der lacanschen Psychoanalyse sowie des Deutschen Idealismus. Der zweite Schwerpunkt wird auf die Entfaltung der Überlegungen Žižeks zum Komplex der Ideologie gelegt. Anhand dieser Grundmotive wird dann die Kritik Žižeks am Multikulturalismus, der neuen Mitte, und, in einem weiteren Sinne, dem zeitgenössischen Politikverständnis erläutert. [...]

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Politik auf Abwegen

Eine Einführung in die Mikropolitik von Gilles Deleuze

Ralf Krause und Marc Rölli



Wir haben die ‚kleinste’ Welt als das überall-Entscheidende entdeckt.“ (Friedrich Nietzsche)



1 Einleitung


Gibt es mehr als versprengte Denkeinsätze, abgebrochene Gedankenketten und kurzfristige Engagements – gibt es eine politische Philosophie von Gilles Deleuze? Das kann bezweifelt werden. Und der Generalverdacht hat einen Namen: Anarchie. Deleuze scheint bisweilen unfassbar zu sein.

Als Programm seines Denkens drängt sich ein reiner Vitalismus auf, der alles zerschlägt, was sich dem Fluss der Libido-Energie in den Weg stellt. „Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, isst. Es scheißt, es fickt. Das Es … Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes.“41 So lauten die ersten Sätze des Anti-Ödipus, jenes Buches, das Deleuze auf einen Schlag berühmt machte. Gleichwohl hat sich die politische Rezeption seiner philosophischen und anderen Arbeiten nicht auf „subkulturelle Bewegungen“ oder ähnliches beschränkt. In verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten gibt es eine politische Wirkung von Deleuze: im Neomarxismus, in den Postcolonial studies, in der Anti-Psychiatrie und im Bereich des Feminismus. Deleuze ermuntert seine LeserInnen geradezu, sich der von ihm geschaffenen Begriffe wie aus einer Werkzeugkiste zu bedienen, um mit ihren Funktionsweisen in neuen Gefügen, Konstellationen des Denkens und Handelns, zu experimentieren.42 Andererseits hat er sich stets als einen „klassischen Philosophen“ bezeichnet, so dass der Status seiner politischen Theorie umstritten bzw. unklar ist.43 [...]

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Das Empire und der Republikanismus der Menge

Marc Ziegler



Mit Empire. Die neue Weltordnung44 haben der italienische Philosoph Antonio Negri und der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt ein gegenwartsdiagnostisches Werk vorgelegt, dessen englische Erstveröffentlichung im Jahr 200045 zu einer anhaltenden Rezeptionstätigkeit innerhalb der sowohl akademisch als auch nicht akademisch ausgerichteten politischen Öffentlichkeit geführt hat. Nicht zuletzt die euphorische – oder zumindest euphorisierende – Erstrezeptionsphase des Buches hat relativ schnell zu einer gestei­gerten Erwartungshaltung gegenüber dem Text geführt. Diese hat sich unter anderem in Form von Tagungen, Themenreihen in Zeitschriften und schnellen Übersetzungen in andere Sprachen artikuliert und fand in der von Slavoj Žižek aufgeworfenen Frage, ob das Empire das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts darstellt, ihren prägnantesten Ausdruck.46 Rechtfertigt nicht schon allein dieses hohe allgemeine Interesse die (weitergehende) Auseinandersetzung mit dem Text, so ist es zumindest der von den Autoren selbst konstatierte eigene radikaldemokratische Ansatz, der zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Empire einlädt.47 An zentraler Stelle des Textes positionieren Negri/Hardt ihr Unternehmen im Kontext einer „radikal republikanische[n] Traditionslinie moderner Demokratie“48. Im folgenden wird zunächst den grundlegenden Intuitionen nachgegangen, die Negri/Hardts spezifisches Verständnis von Republikanismus kennzeichnet (I). Der Republikanismus wird von ihnen als eine genuin moderne Form des Politischen aufgefasst, die in einem letztlich sozialontologischen Verständnis reiner Diesseitigkeit gründet und mit dessen historischen Auftauchen zugleich ein Modernitätskonzept in­auguriert wird, das wesentlich antagonistische Züge trägt (II). Die krisenhafte Grundsituation der Moderne hat sich im Übergang zur Post-Moderne verschärft: Die Machtapparate der Moderne nehmen heute eine neue, ungreifbarere Gestalt an. Damit löst sich ihre Macht nicht auf – im Gegenteil: Kontrolle und Beherrschung totalisieren sich. Das globale Kapital, der Weltmarkt, übernimmt die modernen Attribute der Souveränität und ist bestrebt, sich gegenüber subversiver Praktiken zu immunisieren (III). Den totalitären Kontroll­mechanismen des Empires steht jedoch eine mit affektiver Intelligenz ausge­stattete widerstandswillige Menge gegenüber, die sich ihrerseits global vernetzt und innerhalb des Empires eine Gegenmacht bildet, ein Gegen-Empire, das sich durch ein affektives Streben nach Vereinigung und Kooperation auszeichnet und dessen theoretische Konzeption über weite Strecken von einem Begriff der immateriellen Arbeit getragen wird. Die Konzentration auf diesen Arbeitsbegriff führt die Darstellung zu dem theoretischen Leitkontext des Autorenteams. Das Verhältnis von Arbeit und Widerstand steht schon im Zentrum des Operaismus, eine aus Italien stammende Lesart Marx’. Es stellt sich heraus, dass der radikal-republikanische Ansatz für Hardt/Negri heute nur in der Gestalt eines revidierten Operaismus Geltungskraft erlangt. Nimmt man das Pathos der letzten Seiten des Buches ernst, so ist ein anderer Name für das radikal-republikanische Begehren der Menge nach Kooperation derjenige des Kommunismus.49 Ob allerdings dieses Begehren letztlich nicht auch dazu dienen kann, die Strukturen der bestehenden Herrschaft blind zu reproduzieren, verbleibt als kritischer Einwand schließlich unbeantwortet (IV). [...]

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Michel Serres: Friedensgespräche mit dem großen Dritten

Petra Gehring



Alarm! – Mit diesem Ruf pflegt ein Krieg auszubrechen: Alarm, „á l’armes“. Zu den Waffen. Im Jahr 1980 hat sich der Mathematiker, Epistemologe und strukturalistische Universalgelehrte Michel Serres mit einer verblüffenden kleinen Schrift zu Wort gemeldet: Le contrat naturel. Der Naturvertrag.50 Ist das Buch ein Alarmruf? Wohl schon, und sogar ausdrücklich: „Mit Absicht benutze ich die Warnung, wie sie bei Kämpfen zu Wasser und zu Lande ertönt.“ (19).

Dennoch geht es Serres nicht darum, einen Krieg zu beginnen. Eher schon hat er eine Art Denkschrift gegen den Krieg geschrieben. Sie konstatiert den Kriegausbruch, weil man vom Krieg reden muss, will man auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, einen Friedensplan zu entwickeln. Um welchen Krieg aber geht es? Wir führen Krieg gegen die Natur. Auftritt des Wissenschaftshistorikers als politischer Philosoph. [...]

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Fußnoten

 

1 Vgl. hierzu zusammenfassend Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, Opladen 2000.

2 Vgl. etwa Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992; ferner Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999.

3 Für wichtige Hinweise danke ich Daniel Gaus, Reinhard Heil, Tanja Hitzel-Cassagnes, Andreas Hetzel, Rainer Schmalz-Bruns und Marc Ziegler.

4 Vgl. Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels, Derridas performative Wende, in: dies. (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M. 1997, 7.

5 Vgl. vor allem Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988, 219ff. Etwas wohlwollender positioniert sich der amerikanische Philo­soph Richard Rorty, der sich gleichwohl darum bemüht zeigt, Derrida aus dem Bereich der öffentlichkeitswirksamen Philosophie auszuschließen, indem er eine Deutung von dessen Schriften als private Anspielungen vorschlägt; vgl. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1992, 202ff. und ders., Habermas, Derrida und die Aufgaben der Philosophie, in: ders., Wahrheit und Fort­schritt, Frankfurt a.M. 2000, 444-471.

6 So scheute sich, um eine beispielhafte Auseinandersetzung mit Derrida exemplarisch etwas ausführlicher zu dokumentieren, da sich an ihr der überreizte Tonfall der Debatte ablesen lässt, der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor nicht, gleich in zwei Publikationen einen polemischen Angriff auf Derridas Denken zu führen, der seine Stoßkraft im Wesent­lichen einer unseriösen Zitiertechnik verdankt. Taylor schreibt dabei Derrida eine einseitige Bejahung eines vereinseitigten Ästhetizismus, der als Antihumanismus auftritt, zu und „belegt“ diesen Vorwurf mit einem Passus aus Derridas Levi-Strauss-Aufsatz (Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1976, 422-442.). Taylor zufolge wird von Derrida „eine Denkweise verfochten, die ‚freies Spiel bejaht und den Versuch macht, über den Men­schen und den Humanismus hinauszugehen’ (Charles Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt a.M. 1996, 849, vgl. auch ders., Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M. 1995, 71). Das in den taylorschen Text als Referenz integrierte Derrida-Zitat legt jedoch interessanterweise keineswegs eine solche Positionierung Derridas nahe, sondern Derrida plädiert vielmehr, wie wenige Zeilen später deutlich wird, gerade für die Unmöglichkeit des Treffens einer Ent­scheidung zugunsten eines ‚freien Spiels’ oder, so lautet die andere Seite der von Derrida diskutierten Alternative, einer Suche nach dem Ursprung: „Ich für meinen Teil glaube nicht, daß man zwischen ihnen heute zu wählen hat“ (Derrida, a.a.O., 441; Herv. i.O.).

7 Für den deutschen Sprachraum mögen hier Sammelbände zur Philosophie Derridas als Belege dienen. Vgl. etwa Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hg.), Einsätze des Den­kens, Frankfurt a.M. 1997; sowie Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.), Philosophie der Dekon­struktion, Frankfurt a.M. 2002.

8 Hierbei beziehe ich mich vor allem auf folgende Schriften Derridas; in ( ) gebe ich jeweils die im Nachfolgenden verwendeten Siglen an: Jacques Derrida, Gesetzeskraft, Frankfurt a.M. 1991 (GK); ders., Das andere Kap, Frankfurt a.M. 1992 (DaK); ders., Falschgeld, München 1993 (FG); ders., Marx’ Gespenster, Frankfurt a.M. 1995 (MG); ders., Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000 (PdF); ders., Die unbedingte Uni­versität, Frankfurt a.M. 2001 (DU); ders., Schurken, Frankfurt a.M. 2003 (S); ders., Einsprachigkeit, München 2003.

9 Vgl. GK, 15f.

10 S, 63; Herv. i.O.

11 Claude Lefort, Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, 281 (im Folgenden FD abgekürzt).

12 Für eine aktuelle und ausführliche Bibliographie Rosanvallons vgl. HC, 51-61.

13 Pierre Rosanvallon, Le moment Guizot, Paris 1985.

14 Pierre Rosanvallon, La question syndicale, Paris 1998.

15 Pierre Rosanvallon, Le capitalisme utopique. Histoire de l’idée de marché, Paris 1999.

16Abgesehen von PI vgl. auch Pierre Rosanvallon, Le sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel en France, Paris 1992 und Pierre Rosanvallon, La démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France, Paris 2000.

17 Lire le Capital (Paris 1965) ist ein Gemeinschaftswerk, das aus einem Seminar Althussers an der Ecole Normale Supérieure hervorging; an dem Band waren auch Jacques Rancière, Pierre Macherey und Roger Establet beteiligt. Der Teil, den der damals 23-jährige Balibar verfasste, handelt vom Geschichtsbegriff des historischen Materialismus. (Dt. Ausgabe: Louis Althusser et al., Das Kapital lesen, Reinbek 1972.)

18 Dt. Ausgabe: Etienne Balibar, Für Althusser, Mainz 1994.

19 Althusser entwickelt diese Pointe vor allem in seiner Réponse à John Lewis (Paris 1973); Balibar hat sie später noch einmal dahingehend zugespitzt, dass selbst die ökonomischen Verhältnisse das Produkt quasi-politischer Kämpfe sind: „Der Klassenkampf ist nicht Ausdruck der ökonomischen Formen, sondern wird zur [...] Ursache ihrer relativen Kohärenz. [...] Was sich also ganz klar [...] zeigt, ist nicht eine vorherbestimmte Verkettung von For­men, sondern das Wirken antagonistischer Strategien: Ausbeutungs- und Herrschafts­strategien, Widerstandsstrategien, die durch ihre eigenen Auswirkungen ständig verschoben und neu mobilisiert werden” (Etienne Balibar, Vom Klassenkampf zum Kampf ohne Klassen?, in: ders./Immanuel Wallerstein, Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten [1988], Berlin 1990, 190-224, hier 202).

20 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate [1970], Hamburg/Berlin 1977.

21 Vgl. Louis Althusser, Éléments d’autocritique, Paris 1974, 77ff., hier: 80.

22 Für kritische Anmerkungen zum Text danke ich Robin Celikates, Philipp Schink und Henning Wrage.

23 Vgl. die Neuauflage des ursprünglichen Bandes: Louis Althusser (Hg.), Lire le Capital, Paris 1996. Der Beitrag Rancières wird nach der Erstauflage aufgrund einer Kürzung des Gesamt­bandes aus der Publikation herausgenommen und daher auch nicht für die deutsche Ausgabe (Louis Althusser/Étienne Balibar (Hg.), Das Kapital lesen, 2 Bde., Reinbek 1972) übersetzt. Eine eigenständige Übersetzung des Beitrags erscheint im Merve Verlag: Jacques Rancière, Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1972. Nach der Verweigerung einer „selbstkritischen Vorbemerkung“ durch den Herausgeber und den Verlag wird sein Beitrag in den französischen Auflagen ab 1975 als Band 3 der jeweiligen vierbändigen Edi­tionen publiziert. Siehe zur Entwicklung der Althusser-Schule auch François Dosse, Histoire du structuralisme – I. Le champ du signe 1945-1966, Paris 1992, 334-367 sowie ders., Histoire du structuralisme – II. Le chant du cygne 1967 à nos jours, Paris 1992, 194-222.

24 Vgl. dazu Rancière, Der Begriff der Kritik, a.a.O., 33-36.

25 Vgl. Jacques Rancière, Mode d’emploi pour une réédition de Lire le Capital, in: Les Temps modernes 328 (1973), 788-807 sowie ders., La leçon d’Althusser, Paris 1974. Teile dieser Kritik wurden auf deutsch in den Bänden ders., Wider den akademischen Marxismus, Berlin 1975 sowie Mai-Gruppe/Theoriefraktion (Hg.), Wissenschaft kaputt, Münster 1980, 182-230 abgedruckt.

26 Vgl. dazu vor allem Jacques Rancière, La nuit des prolétaires, Paris 1981 sowie ders., Le philosophe et ses pauvres, Paris 1983. Siehe zu diesen Studien auch Yves Michaud, Les pauvres et leur philosophe. La philosophie de Jacques Rancière, in: Critique 601-602 (1997), 421-445.

27 Vgl. Jacques Rancière, Le maître ignorant – Cinq leçons sur l’émancipation intellectuelle, Paris 1987.

28 Vgl. dazu Jacques Rancière, Literature, Politics, Aesthetics: Approaches to Democratic Disagreement – Interview by Solange Guénoun and James H. Kavanagh, in: SubStance 92 (2000), 3-24, hier: 3.

29 Zuerst erschienen in: Burkhard Liebsch/Jürgen Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 2003, 490-505; wir danken den Herausgebern und dem Campus-Verlag für das Recht auf Wiederabdruck.

30 Jean-François Lyotard, Le différend, Paris 1983, dt. Der Widerstreit, übers. v. Joseph Vogl, München 1987, 12/13. Im folgenden wird unter der Sigle W jeweils zuerst auf die franzö­si­sche Ausgabe und dann auf die deutsche Übersetzung verwiesen.

31 W, 30/33.

32 Vgl. Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Paris 1979, dt. Das postmoderne Wissen, übers. v. Otto Pfersmann, Wien 1986.

33 W, 52/58, 103/119; vgl. zur Begriffsgeschichte von „Verkettung“ Petra Gehring, Artikel Verkettung, in: Joachim Ritter u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001.

34 Vgl. hierzu den Beitrag von Oliver Flügel in diesem Band. – Zum Verhältnis Laclau/Derri­da vgl. Simon Critchley, Dekonstruktion, Marxismus, Hegemonie. Zu Derrida und Laclau, in: Oliver Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik: Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998, 193-208.

35 Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie, Macht und Rechtspopulismus. Ian Angus im Gespräch mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Fernsehinterview in der Reihe „Conflicting Publics“, einem gemeinsamen Projekt des Institute for the Humanities der Simon Fraser Universität in Burnaby, Kanada, und des Knowledge Network, Kanada. Aus dem Englischen von Michael Heister u. Richard Schwarz, in: Episteme. Online-Magazin für eine Philosophie der Praxis. No. 1, http://www.episteme.de/htmls/MouLac.html; im Fol­genden zitiert als HMR.

36 Für wichtige Hinweise danke ich Mechthild Hetzel und Peter Wiechens.

37 Alain Badiou, Manifest für die Philosophie, übers. v. Jadja Wolf u. Eric Hoerl, Wien 1997, 120 (im Folgenden zitiert unter der Sigle M).

38 Vgl. etwa Alain Badiou, Über Metapolitik, übers. v. Heinz Jatho, Zürich / Berlin 2003, 37 (im Folgenden zitiert unter der Sigle ÜM).

39 Vgl. ÜM 25 u. 153.

40 Für wichtige Hinweise danke ich Alexandra Bauer, Oliver Flügel, Andreas Hetzel, Julia Schleinkofer und Marc Ziegler.

41 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I [AÖ], übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1992, 7.

42 Gilles Deleuze und Michel Foucault, Die Intellektuellen und die Macht [IuM], zitiert nach: Dies., Der Faden ist gerissen, übers. v. Walter Seitter und Ulrich Raulf, Berlin 1977, 86-100, hier: 89: „[..] eine Theorie ist ein Instrumentarium [boîte à outils]: sie hat nicht zu bedeuten, sie hat zu funktionieren.“

43 Vgl. hierzu die von Foucault rapportierte Bemerkung eines Maoisten in: IuM, 86: „Ein Maoist sagte mir [lies: zu Michel Foucault]: ‚Ich verstehe, warum Sartre auf unserer Seite steht, warum er Politik macht und wie er sie macht. Auch dich verstehe ich einigermaßen: du hast dich eben immer mit dem Problem der Einsperrung beschäftigt. Aber Deleuze kann ich wirklich nicht verstehen’.“

44 Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Darmstadt 2002.

45 Das englische Original erschien 2000 bei Harvard University Press, Cambridge Mass.

46 Slavoj Žižek, Have Michael Hardt and Antonio Negri Rewritten the Communist Manifesto for the Twenty-First Century?, in: Rethinking Marxism. Vol. 13, Nr. 3/4, 2001.

47 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., 220.

48 Ebd.

49 Vgl. Ebd., 418ff.

50 Michel Serres, Der Naturvertrag, Frankfurt a.M. 1994. Zitate und Nachweise im Folgenden aus der deutschen Ausgabe und in abgekürzter Form: mittels einfacher Seitenzahlen im Text.

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